Russlands Annexion der Krim: 7 Jahre danach. Wie kam es dazu und was bedeutet dies für Europa?

 

Sprecher:

Anton Shekhovtsov (Moderator), Gründer und Direktor des Centre for Democratic Integrity

Andreas Umland, Research Fellow am Russia and Eurasia Program des Swedish Institute of International Relations und Mitbegründer des Centre for Democratic Integrity

Margarita Akhvlediani, Geschäftsführerin und Chefradakteurin der JAMnews Medienplattform

Natalia Gumenyuk, Journalistin, Autorin, Mitbegründerin des Public Interest Journalism Lab

Martin Kragh, Leiter des Russia and Eurasia Program am Swedish Institute of International Affairs

 

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Anton Shekhovtsov, Centre for Democratic Integrity

Shekhovtsov: Vor kurzem kam es zu einer Kontroverse zwischen Joe Biden und Wladimir Putin. Biden wurde gefragt, ob er der Aussage zustimme, dass Putin ein Mörder (killer) sei. Biden bejahte dies, was zu großer Empörung im Kreml und in der politischen Elite führte. Interessant war Putins Antwort: Er meinte, dass wenn man etwas Schlechtes über andere sagt, sei es immer so, als blicke man in einen Spiegel. Anders gesagt, man übertrage auf einen anderen, was man eigentlich selber sei. In diesem Sinne kann man das Verhalten von Putins Russland auf der internationalen Ebene damit erklären, dass Russland glaubt, es dürfe den Westen so behandeln, wie der Westen seiner Meinung nach Russland behandelt. Wenn der Kreml z.B. glaubt, dass der Westen die liberale Opposition in Russland unterstützt, fühlt er sich auch im Recht, rechtsextreme Parteien im Westen zu unterstützen, die den liberalen Konsens in Frage stellen. Das ist eine pragmatische Art von whataboutism.

Die Krim mit dem Kosovo zu vergleichen war auch eine Form des russischen whataboutism. Doch es gibt noch einen anderen Aspekt, den wir heute diskutieren sollten: War die Annexion der Krim 2014 ein Resultat der Unfähigkeit des Westens, auf die russische Aggression angemessen zu reagieren? Natürlich denkt man gleich auch an Georgien 2008.

Andreas Umland, Swedish Institute of International Relations

Umland: Meiner Meinung nach sollte die Frage weniger sein, warum es 2014 zum russisch-ukrainischen Konflikt gekommen ist, sondern warum nicht schon früher. Die friedliche Entwicklung der Ukraine bis 2014 war eine Ausnahme im Vergleich zu den anderen postsowjetischen Ländern.

Es gibt drei Arten von UdSSR-Nachfolgestaaten in Europa:

1. Die baltischen Staaten, die schon früh eine Aussicht auf EU- und NATO-Mitgliedschaft hatten und sich nach und nach in das westliche System integrieren konnten;
2. Belarus und Armenien, die schon bald nach 1991 in die Moskauer Einflusssphäre zurückkehrten;
3. Moldau, Georgien, Aserbaidschan und die Ukraine, die in einer Art sicherheitspolitischer Grauzone verblieben.

Die Instabilität des postsowjetischen Raums (die bereits Mitte der 1990er Jahre von führenden westlichen Sicherheitsexperten erkannt wurde) ist typisch für postimperiale Situationen, die oft durch Konflikte gekennzeichnet ist. Während drei der Staaten der dritten Gruppe ihr Territorium schon lange nicht kontrollieren und de facto seit den Neunzigern failed states waren, galt dies bis 2014 nicht für die Ukraine. Was hat nun Russland daran gehindert, früher in der Ukraine zu intervenieren? Das Interventionsmuster 2014 war ja das Gleiche wie schon früher. So war z.B. der Faschismusvorwurf nichts Neues: Zur Rechtfertigung der Intervention der 14. russischen Armee in den inneren Konflikt der Republik Moldau 1992 wurde die neue moldawische Regierung vom russischen General Aleksandr Lebed mit der SS verglichen. Ebenso gab es für den Vorwurf eines angeblichen Genozids 2014 in der Ostukraine schon 2008 einen Präzedenzfall: Als die russische Armee 2008 in Südossetien und Abchasien intervenierte, geschah das mit der Begründung, die dortige Bevölkerung vor einem angeblichen Genozid seitens der georgischen Regierung schützen zu müssen.

Meine These ist, dass die Ukraine 2014 eine Entwicklung nachgeholt hat, die für postkoloniale, postsowjetische Staaten in der Grauzone typisch und gewissermaßen unvermeidlich war,

wenn sie sich zum einen nicht freiwillig in die russische Einflusssphäre zurückbegeben wollten, wie Belarus und Armenien, und zum anderen auch nicht auf Sicherheitsgarantien durch die NATO und EU zählen konnten, wie etwa die baltischen Staaten. Was diese Entwicklung für die Ukraine verzögert hat, war die energiewirtschaftliche Abhängigkeit Russlands vom ukrainischen Gastransportsystem bis Ende 2012, als der zweite Strang der ersten Nordstream-Pipeline in Betrieb genommen wurde. Danach konnte Russland umsetzen, was es an und für sich schon lange vorhatte, nämlich zumindest einen Teil der Ukraine wieder unter seine Kontrolle zu bringen und das Auseinanderbrechen der Sowjetunion bis zu einem gewissen Grad zu revidieren.

Margarita Akhvlediani, JAMnews

Akhvlediani: Der erwähnte russisch-georgische Krieg 2008 war die Kulmination einer langen Entwicklung. Russland hat Georgien und den Kaukasus immer schon als sein Einflussgebiet betrachtet. Die Ergebnisse des Krieges um und in Bergkarabach 2020 sind ein weiteres Beispiel dafür, dass Russland im Südkaukasus das Sagen haben will.

Was den erwähnten absurden Genozid-Vorwurf angeht, so ist es wichtig zu unterstreichen, dass es dabei eigentlich nie um ethnische Russen ging. Vielmehr wusste Russland die innerethnischen Spannungen im Kaukasus für sich zu instrumentalisieren. Bereits in den 1990ern präsentierte sich Russland als Schutzmacht des abchasischen und ossetischen Volkes. Aber auch das Verhalten der georgischen Seite im Konflikt 2008 muss kritisiert werden. Der Westen hätte in dieser Zeit nicht nur gegen Russland vorgehen sollen, sondern auch gegen Saakaschwili. Es gab Aggression von beiden Seiten.

Die Geschichte wiederholte sich 2020: Russland war tief in den Konflikt verwickelt, während der Westen sich auf einige mahnende Worte beschränkte.

Der Westen hat die Region zum wiederholten Male vernachlässigt. Die Umfragen in Georgien zeigen daher nun einen stetig wachsenden Zuspruch für eine Annäherung an Russland. Schuld ist die Unfähigkeit der Regierung, Reformen umzusetzen und den Lebensstandard zu erhöhen. Russland hingegen weiß dies propagandistisch auszunutzen. Es gab nie eine Strategie, was mit jener postkolonialen, postsowjetischen Bevölkerung geschehen soll, die Russland positiv gegenübersteht. Die lokalen Regierungen sind korrupt und wissen nicht, wie sie mit dieser Frage umgehen sollen. Der Krieg in Bergkarabach 2020 hat gezeigt, wie groß die Gefahr ist, den Kaukasus an Russland zu verlieren. Die Region ist so militarisiert wie schon lange nicht mehr. Ich weiß nicht, wie eine Strategie des Westens aussehen soll, aber die Beschwörung von Werten allein reicht nicht aus.

Natalia Gumenyuk, Public Interest Journalism Lab

Gumenyuk: Ich würde gerne auf Andreas Umlands These eingehen. In der Ukraine gab es, soviel ich weiß, nie eine Diskussion darüber, warum eine russische Intervention nicht schon früher stattgefunden hat. Eine Voraussetzung für die ukrainische Unabhängigkeit in den 1990ern war die Bereitschaft, auf Atomwaffen zu verzichten. Dieser Schritt diente auch laut dem ersten ukrainischen Verteidigungsminister Konstjantyn Morosow dazu, mögliche Debatten über die Krim zu vermeiden. Vor 2014 gab es keine vergleichbaren Situationen in der Ukraine und erst recht keine, die man mit den Konflikten im Kaukasus vergleichen könnte.

Ich sehe andere Auslöser für den russischen Antagonismus gegenüber der Ukraine, beginnend mit der Orange Revolution 2004, die auch zu Protesten in Russland führte. Damals war Putin noch zu schwach für Gegenmaßnahmen. Mit dem 2010 beginnenden Arabischen Frühling wurde die Situation noch bedrohlicher – Diktatoren wurden reihenweise gestürzt. Der Euromaidan 2013/14 war für Putin der Moment zu zeigen, dass solche Revolutionen nur zu Krieg und territorialer Desintegration führen. Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass sind in meinen Augen ein demonstrativer konterrevolutionärer Akt gegen Demokratisierungsbestrebungen.

Ich wurde in den letzten Jahren immer wieder von westlichen Journalisten gefragt, ob die 2008 verkündete Aussicht auf NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens nicht eine Provokation für Russland sei. Ich sehe das nicht so.

Wenn man Tyrannen die Möglichkeit gibt, ungestraft andere Länder zu destabilisieren, ermutigt man sie nur zu noch mehr Aggression.

Der Westen hat zwar hier und da auf die russische Intervention reagiert, aber diese Gegenmaßnahmen waren nur halbherzig und haben kaum etwas bewirkt.

Aus meine Gesprächen mit der lokalen Bevölkerung auf der Krim habe ich erfahren, dass es 2014 große Illusionen gab, es würde nach der russischen Annexion mehr Wohlstand geben. In vielen Fällen traf dies auch zu, so wurden z.B. die Gehälter für Beamte angehoben. Aber genau in diesem ökonomischen Narrativ, das dann auch gerne international aufgegriffen wurde, sehe ich ein Problem: Nur weil ein Land wohlhabender ist, hat es noch lange nicht das Recht, einen Teil eines ärmeren Landes zu besetzen.

Shekhovtsov: Könntest Du ein bisschen über Dein Buch über die Krim erzählen? Was hat sich seit deinen Besuchen dort verändert?

Gumenyuk: In meinem Buch Die verlorene Insel: Geschichten von der besetzten Krim berichte ich über meine Aufenthalte auf der Insel, während der Annexion, während des sogenannten „Referendums“ 2014 und später. Die Leute sagten schon einen Monat nach der Annexion: Wir wissen, dass sich niemand um uns kümmern wird, solange der Donbas-Konflikt nicht gelöst ist. In der Folge war ich bis zur Covid-Pandemie jedes Jahr auf der Krim und schreibe in meinem Buch über verschiedene Gruppen und Probleme, die die Okkupation mit sich brachte. Es geht einerseits um die Krimtataren, die schon zu Beginn stark diskriminiert und unter den Generalverdacht gestellt wurden Islamisten zu sein. Es geht andererseits aber nicht nur um Verfolgte, sondern auch um Menschen mit pro-russischen Ansichten und allgemein um die Ukrainer dort und wie sie mit der neuen Situation umgehen.

Auch die ökologische Krise spielt eine Rolle, vor allem im Zusammenhang mit großen illegalen Bauprojekten an der Küste.

Es geht bei mir nicht um Geopolitik, sondern um Einzelschicksale. Würde ich das Buch heute schreiben, würde es eher um den Langzeiteffekt der Okkupation gehen, etwa um das Heranwachsen einer neuen Generation, die schon von ihr geprägt ist.

Shekhovtsov: Martin, du kommst aus einem nicht-NATO-Staat. Wie hat sich die geopolitische und Sicherheitssituation aus schwedischer Sicht verändert und was bedeutet das für die internationale Rolle des Landes?

Martin Kragh, Swedish Institute of International Affairs

Kragh: Aus der schwedischen Perspektive waren die Krim-Annexion und der Krieg im Donbas ein Weckruf, denn Schweden hatte der neuen Lage nach dem Ende der Sowjetunion 1991 keine große Aufmerksamkeit geschenkt und seitdem seine Verteidigungsausgaben kontinuierlich gesenkt. Der Ausbau von russischen Militärbasen unweit der schwedischen Grenze in den letzten Jahren und die zunehmende Rivalität in der Arktis haben jedoch nun zu einem Umdenken geführt. Die Ausgaben steigen seitdem wieder, bleiben jedoch mit 1% des BIP weit unter dem annoncierten NATO-Minimum von 2%.

Obwohl Schweden kein NATO-Mitglied ist, ist es dennoch über verschieden Abkommen eng in die europäische Sicherheitsordnung integriert, und es ist auch seine Aufgabe, die EU an die europäischen Prinzipien zu erinnern, die den verschiedenen europäischen Sicherheits- sowie Integrationsabkommen zugrunde liegen und die von Russland inzwischen mehrfach missachtet wurden. Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist gegenwärtig zweifellos die größte Bedrohung für unsere Sicherheitsordnung. Wichtig ist, in diesem Zusammenhang auf das umfassende Sicherheitskonzept der OSZE zu verweisen. Es verbindet die Sicherheit zwischen den Staaten mit innerstaatlichen Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Von daher ist die Menschenrechtssituation in Russland keine innere Angelegenheit, vielmehr hat jedes OSZE-Mitglied das Recht und auch die Pflicht, sich dazu zu äußern.

Es wird im Westen viel davon geredet, dass wir einen Dialog brauchen. Wir sollten, sagt man, zurückhaltend mit Anschuldigungen sein und eher eine diplomatische Lösung suchen. Das ist jedoch der falsche Ansatz. Eine Lösung kann nur auf Grundlage der OSZE-Prinzipien gefunden werden.

Man darf nicht vergessen, dass Moskau seinen Krieg in der Ukraine als internen ukrainischen Konflikt darstellt. Das ist Teil der russischen Rhetorik im Minsker Prozess und anderswo. Wenn man dieser Sicht folgt, hat die Ukraine nicht das Recht, ihre Souveränität und territoriale Integrität zu verteidigen, andernfalls würde sie ja ihre Verpflichtungen im Rahmen des Friedensprozesses verletzen. Wenn es eine schwedische Perspektive gibt, dann jene,

dass es keinen Widerspruch zwischen einer Sicherheitsordnung gibt, die auf Werten basiert, und einer, die auf Interessen beruht.

Die Werte, auf denen die europäische Sicherheitsordnung aufgebaut ist, fallen nämlich mit den nationalen Sicherheitsinteressen der europäischen Staaten zusammen. Dies gilt besonders für jene, die keine NATO-Mitglieder sind, wie Schweden und die Ukraine. Die Nichtanerkennung der Krim als Teil Russlands und die Beibehaltung von Sanktionen als Druckmittel gegen Russland, um eine friedliche Lösung zu finden, sind Mindestvoraussetzungen einer Verteidigung der europäischen Sicherheitsordnung und der politischen Integrität der Ukraine.

Shekhovtsov: Zum Schluss würde ich noch gerne fragen, welche weiteren „roten Linien“ Russland in naher Zukunft überschreiten wird. Könnte Belarus der nächste Kandidat für eine Intervention sein? Es hat bereits einen Teil seiner Souveränität an Russland verloren, als Preis für die Unterstützung von Lukaschenkas Regime.

Umland: Die Proteste seit letztem Sommer hätten in gewisser Hinsicht nie passieren dürfen, da Belarus seit den Neunzigern zum Moskauer Einflussbereich gehört. Aus russischer Perspektive reihen sich die belarussischen Proteste in die angeblich vom Westen angezettelten früheren Farbenrevolutionen in postkommunistischen Staaten ein.

Belarus gerät damit in Gefahr, in die erwähnte Grauzone von Ländern zu rutschen, die ihre Unabhängigkeit gegenüber Russland behaupten wollen, jedoch keine EU- und NATO-Mitglieder sind.

Das Bild ist aus verschiedenen Gründen besonders kompliziert: In Russland selbst denkt man über einen Regimewechsel in Belarus nach, die belarussischen „Revolutionäre wider Willen“ wollen eigentlichen keinen zweiten Euromaidan, sondern lediglich einen friedlichen Machtwechsel an der Spitze, aber auch keine engere Anbindung an Russland, wie sie schon seit langem vorbereitet ist. Am Ende aber könnte aus Belarus eine kleine Ukraine werden, um es vereinfacht zu formulieren.

Akhvlediani: In meinen Augen ist Russland in den letzten Jahren entgegen allen Prognosen immer stärker geworden und muss herausgefordert werden. Weder Georgien noch Armenien oder Belarus oder die Ukraine können dies allein tun. Wenn wir nicht bald internationale Unterstützung bekommen, wird es zu spät sein. Für Belarus ist es vielleicht schon zu spät.

Gumenyuk: Es stimmt, viel Zeit wurde verloren und der Westen hat immer weniger Einfluss in Ländern wie Belarus. Die Regime dort werden immer autoritärer. Dennoch glaube ich an unvorhersehbare Ereignisse, die den Status quo in Frage stellen könnten. Die Welt entwickelt sich heute viel rasanter als noch vor zehn Jahren, daher sehe ich nach wie vor das Potential von Protesten in Russland und Belarus in naher Zukunft.

Was rote Linien angeht, fällt es schwer sich nach der Vergiftung von Nawalny vorzustellen, was noch passieren sollte, damit sich im Westen etwas tut.

Aber wenn etwas passiert, dann muss es in Russland selbst geschehen.

Shekhovtsov: Hoffen wir, dass der Westen den Herausforderungen von Seiten autoritärer Regime gewachsen ist und dass die USA unter der neuen Regierung die europäische Sicherheit ernster nehmen.